- Podiumsdiskussion mit Ausstellungskuratoren und ehemaligen Kriminalbeamten
- Wissenschaft trifft auf „Citizen-Science“ – neue Erkenntnisse zu Tirols Exekutivgeschichte
- Freier Eintritt, keine Anmeldung erforderlich
- Alle Veranstaltungen zu „Tirol erinnert“ unter tirol.gv.at/erinnern
Wer hat Leokadia Justman gerettet? Wer half der jungen Jüdin auf ihrer Flucht in Tirol? Diesen Fragen widmet sich eine historische „Fahndung“ am 5. Juni 2025 im Festsaal des Innsbrucker Landhauses. Die Veranstaltung – eine Kooperation des Landes Tirol mit dem Verein Wissenschaft und Verantwortlichkeit – bildet einen inhaltlichen Höhepunkt der Sonderausstellung „Leokadia Justman. Brechen wir aus!“. Im Mittelpunkt steht die Spurensuche zu den dramatischen Erlebnissen der jungen Jüdin während der NS-Zeit – ein einzigartiger Überlebensbericht, der durch Recherchen und Archivfunde erstmals fundiert bestätigt werden konnte. Die kostenlose Podiumsdiskussion beginnt um 19 Uhr, eine vorherige Anmeldung ist nicht erforderlich.
„Leokadia Justmans Erinnerungen sind ein berührendes Zeugnis – ein Zeugnis menschlicher Stärke und zugleich ein aufrüttelndes Dokument des Holocaust“, erklärt Kulturreferent Landeshauptmann Anton Mattle. „Die konsequente Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist nicht nur historische Pflicht, sondern auch Fundament für eine verantwortungsbewusste, zukunftsgerichtete Demokratie. Dass mit Leokadia Justman eine junge Frau mit klarem Blick eine Stimme bekommen hat, ist für Tirols Erinnerungskultur von unschätzbarem Wert.“
Mehr als 35.000 Karteien – Leokadias Überlebensbericht historisch bestätigt
Die Veranstaltung kombiniert Interview und Diskussion – auf der Bühne sprechen: die Ausstellungskuratoren Niko Hofinger und Dominik Markl sowie die beiden Ermittler Peter Hellensteiner (ehemaliger Gruppeninspektor bei der Landespolizeidirektion Tirol) und Anton Walder (ehemaliger Leiter der Fahndung beim Landeskriminalamt Tirol). Auf Basis von Akten aus dem Historischen Archiv der Landespolizeidirektion Tirol rekonstruierten sie mit wissenschaftlicher Akribie und detektivischem Spürsinn, was Leokadia widerfuhr – und wer ihr das Leben rettete.
Anstoß zu dieser außergewöhnlichen historischen Recherche gab Niko Hofinger, der Hellensteiner und Walder auf Leokadias Überlebensbericht aufmerksam machte. Zuvor hatten die beiden ehemaligen Kriminalbeamten erfahren, dass fünf Tiroler Polizisten in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ erinnert werden. In den Archiven der Landespolizeidirektion begaben sie sich dann auf Spurensuche und durchforsteten händisch mehr als 35.000 Karteikarten. Das verblüffende Ergebnis: Leokadia Justman bewies nicht nur ein außergewöhnliches Namensgedächtnis, auch Zahlen und Daten sind bis auf wenige Ausnahmen historisch exakt.
Historische Fahndung – mit überraschenden Erkenntnissen
Mit ihrem literarischen Erinnerungsbericht trug Leokadia Justman dazu bei, Lücken in der Tiroler Kriminalgeschichte zu schließen: „Die Akkuratesse von Justmans Beschreibungen hat uns erstaunt. Zum Beispiel erwähnt sie einen Herrn Cazzonelli, der seine Frau an die Gestapo verloren habe. Erst bei der Überprüfung dieser Aussage sind wir auf das Schicksal von Alice Cazzonelli gestoßen – ein bislang unbekanntes Innsbrucker Opfer des NS-Terrors,“ berichtet Dominik Markl. Als erfahrener Historiker der NS-Zeit in Tirol unterstreicht Niko Hofinger: „Wir haben es hier mit einer einzigartigen Perspektive einer jungen Frau zu tun, die ihre Erlebnisse aus dem Innsbrucker Gefängnis schildert, in dem sie neun Monate eingesperrt war. Es gibt keinen vergleichbaren Text dieser Art.“
Citizen-Science trifft Exekutivgeschichte
Die historischen Nachforschungen zu Leokadia Justman beruhen auf einer außergewöhnlichen Zusammenarbeit: zivilgesellschaftliches Engagement, wissenschaftliche Kuratierung und die Expertise ehemaliger Exekutivbeamter gehen Hand in Hand. Hellensteiner und Walder arbeiten heute als sogenannte „Citizen-Scientists“ an der systematischen Erschließung der Tiroler Exekutivgeschichte. In den Akten des Historischen Archivs der Landespolizeidirektion Tirol konnten mehr als zwanzig im Polizeiapparat tätige Personen identifiziert werden, die Justman in ihren Erinnerungen erwähnt – für die meisten sind noch mehrere hundert Seiten starke Personalakten erhalten. Unter ihnen sind Beamte der Gestapo, die grausame Verfolgungsarbeit leisteten, aber auch jene fünf Polizisten, die das Leben von Leokadia Justman und vier weiteren Jüdinnen gerettet haben.
Die reichhaltigen Akten ermöglichen es nun erstmals, mit Akribie und Quellenkritik die Abläufe der hiesigen NS-Verfolgung zwischen Gestapo und Innsbrucker Polizei, dem Arbeits- und Erziehungslager Reichenau und dem Gefängnis in der „Sonne“ nachzuzeichnen. Zudem konnte Walder durch „Fahndung“ in Tausenden Gefangenenkarteikarten im Tiroler Landesarchiv Mitgefangene von Leokadia Justman identifizieren – wie die damals elfjährige Edith Singer aus Vukovar, die fünf Sprachen beherrschte und als Jüdin im August 1944 von Innsbruck nach Auschwitz deportiert wurde.
„Gemeinschaftliche Projekte wie im Fall von Leokadia Justman zeigen, wie wichtig es ist, historische Verantwortung zu übernehmen. Unterschiedliche Disziplinen erlauben dabei unterschiedliche Blickwinkel – die sich im Anschluss zu einem großen Ganzen zusammenfügen“, betont LH Mattle. „Wir müssen uns der Vergangenheit stellen. Denn nur so können wir unsere Zukunft gestalten.“
Factbox: Sonderausstellung „Leokadia Justman. Brechen wir aus!“
Die Ausstellung „Leokadia Justman. Brechen wir aus! Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol“ ergänzt als Sonderpräsentation die Rahmenausstellung „Vom Gauhaus zum Landhaus. Ein Tiroler NS-Bau und seine Geschichte“ und ist noch bis 26. Oktober 2025 (Montag bis Freitag von 9 bis 17 Uhr) im Landhaus 1 zu sehen. Das Projekt ist eine Kooperation des Landes Tirol mit der Universität Innsbruck und dem Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, der Pädagogischen Hochschule Tirol, dem Archiv für Bau.Kunst.Geschichte, dem Programm ERINNERN:AT des OeAD (Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung) zum Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust sowie dem Verein Wissenschaft und Verantwortlichkeit. Alle Veranstaltungen zum Thema „Tirol erinnert“ anlässlich des Gedenkens „80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg“ sind unter tirol.gv.at/erinnern zu finden – dort steht auch der virtuelle 360°-Rundgang der Ausstellung „Vom Gauhaus zum Landhaus“ zur Verfügung.