Dreierkommission Martinsbühel legt Abschlussbericht „Demut lernen“ vor

Medieninformation im Auftrag der unabhängigen „Martinsbühel-Kommission“

  • Wissenschaftliche Aufarbeitung zeigt strukturelle, physische, psychische und sexualisierte Gewalt in den damaligen Kinderheimen auf
  • 75 Interviews wurden durchgeführt; großteils konstruktive Zusammenarbeit mit kirchlichen und öffentlichen Stellen
  • Diözese Innsbruck und Land Tirol einig: Es darf nichts vertuscht und verharmlost werden
  • Gemeinsames Ziel ist aktive Aufarbeitung und Erinnerungskultur
  • Betroffenen soll Wunsch nach öffentlicher Sensibilisierung in Form einer Enquete ermöglicht werden

Nach zweijähriger Forschungstätigkeit des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Wissenschaftsbüros Innsbruck liegt der Abschlussbericht „Demut lernen. Kindheit in konfessionellen Kinderheimen in Tirol nach 1945“ vor. Verfasst wurde der Bericht im Auftrag der so genannten „Dreierkommission Martinsbühel“, die im Jahr 2019 vom Land Tirol, der Diözese Innsbruck sowie den VertreterInnen der Ordensgemeinschaften eingesetzt wurde. Ziel war und ist, dass die unabhängige ExpertInnenkommission die Vorkommnisse rund um das Kinderheim Martinsbühel aufarbeitet – vor allem bezogen auf die strukturellen Hintergründe. „Im Zuge der Aufarbeitung wurde festgestellt, dass Bedarf für eine Untersuchung weiterer Einrichtungen besteht. Aus diesem Grund haben wir das Forschungsprojekt auf weitere kirchliche Heime in Tirol nach 1945 ausgeweitet“, erinnert die Vorsitzende der Dreierkommission, Margret Aull. Konkret wurden die Heime Martinsbühel, Scharnitz, das Josefinum/Volders, die Bubenburg/Fügen, St. Josef/Mils, Thurnfeld/Hall und das Elisabethinum/Axams untersucht.

Nach einem öffentlichen Aufruf, der von den projektverantwortlichen ZeithistorikerInnen Ina Friedmann (Wissenschaftsbüro Innsbruck) und Friedrich Stepanek (Universität Innsbruck) initiiert wurde, konnten 75 Personen interviewt werden. Sie lebten entweder als Kinder bzw. Jugendliche in diesen Einrichtungen oder haben sich als ZeitzeugInnen gemeldet, weil sie dort gearbeitet hatten oder in anderer Weise Auskunft geben konnten und wollten.

Darüber hinaus kam es im Herbst 2020 zu einem Lokalaugenschein in Martinsbühel, im Zuge dessen VertreterInnen der Dreierkommission, der wissenschaftlichen Leitung sowie der Kirche von einer in Martinsbühel als Kind bzw. Jugendliche jahrelang untergebrachten Frau durch die Räume und das Gelände geführt wurden. Nicht zuletzt wurde von der Wissenschaft auch das relevante Archivmaterial erhoben. Dieses war jedoch nur fragmentarisch vorhanden: Skartierungen in früheren Jahrzehnten und der unklare Verbleib von unterschiedlichen Aktenbeständen beschränkten die Forschungsmöglichkeiten. Zudem war die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Mutterkloster der Benediktinerinnen von Scharnitz sehr schwierig. Abgesehen davon könne laut wissenschaftlicher Leitung aber von einer konstruktiven Zusammenarbeit mit allen – kirchlichen wie öffentlichen – Stellen berichtet werden.

Wesentliche Erkenntnis des Abschlussberichtes

Im Sinne der Untersuchung von Vorkommnissen der Gewalt vor allem mit dem Blick auf strukturelle Zusammenhänge und Formen innerhalb dieses Forschungsauftrages wurde der Fokus auf die Lebens- und Arbeitsrealitäten in den untersuchten Einrichtungen gelegt. „Es wird aufgezeigt, dass die Strukturen in den Heimen verschränkt mit den strukturellen Bedingungen von außen – dem Land, der Kirche –, aber auch der Interaktion von Ordensschwestern und deren Übergeordneten Auswirkungen auf die Heimkinder hatten“, hält Kommissionsvorsitzende Aull fest. Die Schilderungen in den durchgeführten Interviews würden zeigen, dass die Ordensangehörigen von den schutzbefohlenen Kindern stets Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangt hatten. Weder die fehlende erzieherische Ausbildung der damaligen Ordensfrauen, noch die Gruppengröße – in Martinsbühel musste etwa eine Schwester in den 1970er-Jahren bis zu 50 Mädchen betreuen – war für die Kinder und deren Bedürfnisse förderlich. „Die Schilderungen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner machten uns deutlich, dass eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre vorherrschte“, so Aull.

Neben der strukturellen Gewalt wurde von den Befragten auch von psychischer (beispielsweise das Einreden von Schuldgefühlen, etc.) sowie physischer Gewalt (beispielsweise Ohrfeigen, Schläge, etc.) berichtet. Auch über sexualisierte Gewalt wurde erzählt. „Da sexualisierte Gewalt verschiedene Formen betrifft und sich auf weit mehr Formen als eine Vergewaltigung bezieht, verstanden manche ehemalige Heimkinder erst im Nachhinein, dass sie sexualisierte Übergriffe erfahren hatten“, zeigt Kommissionsvorsitzende Aull auf. Die grundsätzlichen strukturellen Mängel waren damals vielfältig. Betroffene berichteten, dass die damalige Jugendfürsorge des Landes und auch die jeweiligen Schulbehörden nicht oder zumindest zu wenig genau hinschauten. „Einige Befragte gaben an, dass sie erst im Rahmen des verstärkten Auftretens von Opferschutzkommissionen zu professioneller Unterstützung kamen – und damit erst Jahrzehnte nach den gemachten Erfahrungen. Mit dem vom Land Tirol und der Diözese Innsbruck beauftragten Forschungsprojekt haben wir nun jenen eine Stimme gegeben, die zu lange nicht gesehen und gehört wurden“, so Vorsitzende Aull.

Lehren für die Gegenwart und Zukunft

Die Diözese Innsbruck und das Land Tirol sind sich bei der Aufarbeitung des Abschlussberichtes einig, dass nichts vertuscht und verharmlost werden darf – im Gegenteil: „Die teils erschütternden Berichte zeigen pädagogisches Totalversagen – das gilt für kirchliche und staatliche Einrichtungen. Die Umstände, die dazu geführt haben, werden teilweise im Forschungsbericht dargelegt. Wichtig ist es, dem geschehenen Unrecht die nötige Aufmerksamkeit zu geben. Mein Mitgefühl gilt allen, die in den Heimen traumatisiert wurden“, so Bischof Hermann Glettler, der zusätzlich betont: „Aufgrund zahlreicher erschütternder Berichte von betroffenen Personen in den vergangenen Jahren hat die Kirche bereits reagiert. Im Jahr 2010 wurde eine unabhängige Opferschutzkommission eingerichtet. Zahlreiche Personen, von denen einige im Bericht ihre dramatischen Erfahrungen schildern, wurden von dieser Kommission angehört und haben Unterstützungszahlungen erhalten. Ebenso wichtig war die sofortige Einrichtung von Ombudsstellen in allen Diözesen und die Erarbeitung von Präventionskonzepten, die ständig aktualisiert werden.“

Tirols Soziallandesrätin Eva Pawlata ist es ebenfalls wichtig, zur Verantwortung auch des Landes Tirol zu stehen: „Ich bitte alle Betroffenen um Verzeihung für das, was damals in den Heimen passiert ist. Wir müssen alles dafür tun, dass solche Geschehnisse nie wieder vorkommen. Dazu müssen wir das Thema Gewalt, auch strukturelle Gewalt, noch deutlicher ins Bewusstsein holen und dafür sensibilisieren – und das Tag für Tag“, so die Landesrätin. Viele Errungenschaften seien vom Zeitraum der Geschehnisse von damals bis heute bereits umgesetzt worden, wie beispielsweise die Installierung einer Kinder- und Jugendanwaltschaft im Land Tirol, eigenen Vertrauenspersonen, die sämtliche Einrichtungen aufsuchen bis hin zu pädagogischen Standards. „Dennoch müssen wir stets die Augen offenhalten sowie die finanziellen Ausstattungen in den Heim-, Betreuungs- und Bildungsstätten für unsere Kinder weiter sichern und ausbauen. Zudem ist nun schon mehrfach der Wunsch an mich herangetragen worden, diesem Thema auch eine ‚öffentliche Aufmerksamkeit‘ zu geben, da dies für viele Betroffene eine heilende Wirkung haben kann. Aus diesem Grund haben wir mit allen Verantwortlichen – Land Tirol, Diözese Innsbruck und der Dreierkommission – vereinbart, dass wir eine Enquete durchführen wollen. Wir wollen bei diesem Thema zu einer aktiven Erinnerungskultur beitragen“, so die Soziallandesrätin.

Kommissionsmitglied und Projektleiter Dirk Rupnow vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck bedankt sich in dem Zusammenhang allen voran bei Ina Friedmann und Friedrich Stepanek für die wissenschaftlich akribische Aufbereitung des Abschlussberichtes. Gleichzeitig wirbt er dafür, dass der Bericht auch einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung steht. „Man muss sich der Lektüre des Berichtes unterziehen und wird merken, dass die Inhalte etwas mit einem machen. Wir müssen die Gesamtgesellschaft damit konfrontieren. Die Opfer von damals wollen ernst genommen werden und nochmals zu Wort kommen – genau das können dieser Bericht und eine aktive Aufarbeitung der Inhalte bewirken.“

Der Abschlussbericht in seiner gesamten Länge ist ab sofort auf der Website des Landes unter  www.tirol.gv.at/martinsbuehel sowie auf der Website der Diözese Innsbruck unter www.dibk.at/martinsbuehel und der Website der Universität Innsbruck unter https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/studie-zu-martinsbuehel/ abrufbar.

 


Die Dreierkommission besteht aus Vorsitzender Dr.in Margret Aull (Erziehungswissenschaftlerin, Psychotherapeutin und Supervisorin), HRin Mag.a Elisabeth Harasser (Kinder- und Jugendanwältin bei der Kinder- und Jugendanwaltschaft Tirol), Sr. Judit Nötstaller (SSND School Sisters of Notre Dame), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und derzeit Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck) und Univ.-Prof. FH-Prof. Mag. Dr. Franz Pegger (Rechtsanwalt).

 Hinweis: Die Verantwortlichen der unterschiedlichen Stellen (Vorsitzende der Dreierkommission, Studienleiter sowie ausführende WissenschafterInnen, Diözese Innsbruck, Land Tirol) stehen für vertiefende Nachfragen und Interviews gerne zur Verfügung.

 Rückfragehinweis zur Medieninformation:

Dr. Margret Aull
Vorsitzende der Dreierkommission Martinsbühel
Mail: margret.aull@aon.at
Telefon: +43676 / 72 77 270

 Projektleiter des Forschungsprojektes:
Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow
Mail: Dirk.Rupnow@uibk.ac.at

 Wissenschaftliche AutorInnen:
Dr. Ina Friedmann und Mag. Friedrich Stepanek
Mail: Ina.Friedmann@uibk.ac.at